Wie du in 12 Tagen einen Use Case für KI identifizieren kannst

Benötigte Lesezeit: 7 Minuten

Im Sommer 2017 waren wir auf einer Mission: Wir wollten in nur zwölf Tagen dem Top-Management beweisen, dass die KI-basierte visuelle Suche das Nutzererlebnis beim Online-Shopping verbessern kann.

Im Frühjahr 2017 verliebten wir uns in die visuelle Suche. Pinterest hatte gerade die Lens-Funktion veröffentlicht, mit der Benutzer Informationen über ein Objekt mit ihrer Smartphone-Kamera im Handumdrehen finden können. Wir waren fasziniert und wollten mehr über diese Technologie erfahren. Ein paar Wochen später hatten wir uns Grundwissen zum Thema angeeignet und ein eigenes visuelles Suchkonzept im Kopf. Wir waren überzeugt, dass maschinelles Sehen das Nutzererlebnis im Web verbessern konnte. Außerdem wollten wir die Bedürfnisse der User besser verstehen sowie ihre aktuelle User Journey bei der Bildsuche.

Pinterest Lens 

Nicht jeder im Unternehmen war von unserer Idee begeistert. Interne Experten forderten einen Beleg für die Relevanz der visuellen Suche in der Customer Journey. Wir bekamen die Chance, unsere Hypothese gemeinsam mit einem funktionsübergreifenden Experten-Team zu untersuchen. Von da an waren wir auf einer Mission – zu beweisen, dass die visuelle Suche das Nutzererlebnis verbessern konnte.


Der Lernprozess beginnt mit dem Selbststudium 

Zunächst möchten wir klarstellen, dass wir keine Tech-Profis sind. Wir arbeiteten im Suchmarketing, als wir unsere Reise begannen. Wir kannten uns weder detailliert mit künstlicher Intelligenz (KI) aus, noch mit Bilderkennung, Produktentwicklung oder agilen Arbeitsprozessen. Wir waren einfach begeistert von dem Thema und der Tatsache, dass ein Bild besser ist als 1000 (Such-)Wörter.

Bevor wir unsere Hypothese entwickelten, studierten wir zahlreiche Sekundärquellen. Wir lasen über mehrere Wochen alle wissenschaftlichen Papers, Studien und Vorträge über maschinelles Sehen, Pinterest, die Technologie hinter den visuellen Suchfunktionen und deren Marketing-Potenziale. Google Scholar war eine hilfreiche Suchmaschine für diesen Zweck sowie YouTube. Unsere Englischkenntnisse erwiesen sich als großer Vorteil, da die meisten Inhalte rund um KI in den USA und in China veröffentlicht wurden. Basierend auf unseren Recherchen und dem daraus resultierenden Lernprozess waren wir dann in der Lage, eine eigene Idee zu entwickeln. Diese konnten wir den Verantwortlichen für Innovationen und anschließend dem Top-Management präsentieren.


Sichere dir die Unterstützung der Entscheider

Damit unsere Idee einfach verständlich war, entwarfen wir mit Hilfe eines befreundeten Designers einen ersten Prototypen. Dieses Modell überzeugte die Entscheider davon unser Forschungsprojekt zu unterstützen. Außerdem betonten wir, dass (und wie) zahlreiche interne Stakeholder von einem klaren Anwendungsfall profitieren konnten. Zusätzlich stellten wir das Kundenerlebnis und die 4D-Designmethode „Problem zuerst“ in den Fokus unserer Überlegungen.


Fun-Fact:Beim Durchstöbern mehrerer Berichte und Studien fanden wir heraus, dass Yushi (Kevin) Jing einer der Masterminds hinter der visuellen Suche ist. Seine Firma Visual Graph wurde 2014 von Pinterest übernommen. Als Head of Recommendations unterstützte er dort den Launch der visuellen Suchfunktion “Pinterest Lens”. Kurze Zeit später wechselte Jing als Software-Engineer zu Google. Nur ein paar Monate danach veröffentlichte das Tech-Unternehmen ein ähnliches visuelles Such-Feature, ebenfalls “Lens” genannt. Kevins Arbeit inspirierte uns während des gesamten Forschungsprozesses. Eine Übersicht seiner Publikationen findest du hier: http://www.kevinjing.com



Suche den Austausch mit Experten und Kollegen

Anschließend kontaktierten wir Experten innerhalb unserer Organisation, um einen Überblick über laufende Projekte rund um maschinelles Sehen und visuelle Suche zu erhalten. Dieser Informationsaustausch mit Kollegen aus Technik und Produktmanagement war äußerst wertvoll. Wir konnten unsere Idee spezifizieren und sicherstellen, dass wir das Rad nicht neu erfanden. Darüber hinaus trafen wir Mitarbeiter, die gleichermaßen begeistert von dem Thema waren und uns ihre Unterstützung anboten. Eine ideale Grundlage, um eine zentrale Forschungsfrage zu definieren, welche im Mittelpunkt unseres ersten Sprints stand.


Der Nutzer kommt zuerst, KI danach

Anfangs lenkte uns die Begeisterung über KI-Innovationen ab: Unsere Idee basierte ausschließlich auf der Technologie und lies den Nutzer außen vor. Wir hatten eine Lösung, obwohl wir nicht wussten, ob es überhaupt ein Problem gab. Dieses Phänomen begegnete uns mehrfach bei der Recherche. Selbst große Tech-Unternehmen brachten in der Vergangenheit neue Features auf den Markt, ohne vorab den Mehrwert für den User zu prüfen. Die Folge: Im schlimmsten Fall wurde das Tool nicht genutzt und Zeit sowie Ressourcen verschwendet. Innovationen können Begeisterung erzeugen, was aber keinen echten Mehrwert jenseits der Aufregung darstellt. In diesem Zusammenhang wird im Innovationsmanagement gerne folgendes Zitat verwendet:

„Wenn ich die Leute gefragt hätte, was sie wollten, hätten sie schnellere Pferde gesagt.“ Henry Ford

Wir können nicht erwarten, dass Nutzer neue Technologien kennen oder verstehen. Was sie uns jedoch mitteilen oder zeigen können, sind existierende Probleme oder Herausforderungen denen sie bei aktuellen Vorgehensweisen begegnen. Eine stringente Methodik beim User Research verhindert, dass wir uns von der Technologie blenden lassen. Und stellt sicher, dass Kundenprobleme identifiziert werden bevor Lösungsansätze in den Fokus rücken.

Wir schoben also KI für einen Moment beiseite und konzentrierten uns auf die aktuellen Gewohnheiten unserer Nutzer. Wie handeln sie im Moment, ohne sich neuer technischer Möglichkeiten bewusst zu sein? Wie versuchen sie ein bestimmtes Ziel zu erreichen? Wie suchen und finden sie visuelle Inspiration? Und noch wichtiger – wo sind die Schmerzpunkte in diesem Suchprozess?


Design Sprints mit funktionsübergreifenden Teams

Für unsere Forschung verwendeten wir das berühmte Sprint-Kit. Wir empfehlen jedem einen Blick ins Buch, der nicht mit agilen Arbeitsmethoden vertraut ist. Im Idealfall gibt es außerdem einen Sprint-Mentor, der das gesamte Projekt begleitet und beratend zur Seite steht. Wir machten weiterhin sehr gute Erfahrungen mit einem funktionsübergreifenden Projekt-Team, das Menschen aus verschiedenen Fachbereichen vereinte. Wir (Marketing) arbeiteten mit Innovationsmanagern, Produktmanagern, UX/UI-Designern und App-Entwicklern zusammen. Die Synergien waren erstaunlich und es überraschte uns alle, was wir in zwölf Tagen erreichen konnten. Gemeinsam konzentrierten wir uns je eine Woche auf eine einzelne Forschungsfrage.

Welches Kundenproblem möchte ich lösen? – Hilfreiche Methoden

Zeit ist Luxus, daher ist es ist nicht unbedingt notwendig zwölf Tage zu investieren. In der Tat reicht eine Woche (ein Sprint) für die meisten Fälle aus. Aufgrund des breiten Themas und der vorhandenen Ressourcen machten zwölf Tage (zwei Sprints) für unser Forschungsprojekt Sinn.


Durch User Research die Customer Journey skizzieren

Wir konzentrierten uns im ersten Sprint ausschließlich auf die Nutzerforschung. Ziel war es, mit unseren Usern in Kontakt zu treten und ihr aktuelles Vorgehen bei der visuellen Inspiration und Suche zu verstehen. Fünf persönliche Interviews führten zu wertvollen Einsichten. Basierend auf diesen Informationen konnten wir eine typische Kundenreise entwerfen und Schwachstellen identifizieren. Darüber hinaus führten wir Interviews mit externen Experten durch, um weitere Herausforderungen für Benutzer visueller Suchfunktionen zu identifizieren. Es war überraschend einfach Spezialisten (z.B. von Google Lens) zu kontaktieren und Informationen auszutauschen. Fragen kostet nichts.

Die Kundenreise bei der visuellen Suche
Die Kundenreise bei der visuellen Suche


Tipp: Erwähnenswert ist, dass der Recherche-Prozess mit einer klaren Auswahl der Interviewpartner beginnt. Berücksichtigt werden sollten die allgemeine Zielgruppe, Alter, Nationalität, Offenheit für neue Technologien, etc. In der Regel reichen fünf Test-User aus, um sich wiederholende Verhaltensmuster zu erkennen. Du kannst Interviews entweder persönlich durchführen oder ein Online-Tool wie usertest.io verwenden.


Baue eine Brücke zwischen Schwachstellen und dem eigentlichen Ziel

Nach dem ersten Sprint nahmen wir uns zwei Wochen Zeit, um zu reflektieren und darüber nachzudenken, was wir gelernt hatten. Der zweite Sprint fokussierte sich dann auf die Lösung. Wir definierten eine neue Forschungsfrage und optimierten die User-Journey basierend auf unseren Learnings und daraus resultierenden Hypothesen. Zu diesem Zeitpunkt kam KI zurück in Spiel. Nun konnten wir unser erworbenes Wissen über Computer Vision endlich anwenden, um eine Brücke zwischen den Schmerzpunkten und dem eigentlichen Ziel der Nutzer zu bauen. Dies war die Grundlage für einen neuen Prototyp, dessen Funktionalität wir dann in fünf weiteren Nutzertests untersuchten.

Eine ideale Lösung ist eine intuitive Erweiterung der aktuellen Gewohnheiten der Benutzer. Wenn das gelingt, hört man vielleicht die Frage „Wie habe ich es vorher gemacht?“. Sobald die Befragten die Vorteile unseres Prototyps erkannten, reagierten sie mit Begeisterung und fragten: „Kann ich es jetzt gleich benutzen?“


Unser Fazit – Begeisterung lohnt sich

Wer eine klare Methodik verwendet, sich mit talentierten Leuten aus verschiedenen Fachbereichen umgibt und die eigene Motivation nutzt, um mehr zu lernen – kann viel erreichen. Wir konnten nachweisen, dass es tatsächlich einen Anwendungsfall für die visuelle Suche sowie einen Business Case gibt. Unserer Erkenntnisse überzeugten das Top-Management weiter zu forschen und zu investieren.

Die allgemeine Begeisterung für KI kann wertvoll für jedes Unternehmen sein. Voraussetzung ist jedoch die Offenheit für innovative Technologien und die Möglichkeit, Thesen und Ideen überprüfen zu können. Die Durchführung von Nutzerforschung zwingt die Begeisterten über den Hype hinaus zu denken und sich auf Fakten zu konzentrieren. Gleichzeitig bietet es die Möglichkeit, Skeptiker zu überzeugen. Doch vor allem schafft es echte Vorteile für den Kunden.

Hinweis: Aus datenschutzrechtlichen Gründen können wir keine Details zu den Prototypen verraten.

Hermance Wadin & Tina Nord

Bild: DALL E 2

Hermance Wadin

Suche und Innovation sind Hermance Wadins Leidenschaft. Als SEO-Expertin begeistert sie sich für künstliche Intelligenz und wie diese das Finden beeinflusst. Im Jahr 2017 initiierte sie gemeinsam mit Tina Nord ein Forschungsprojekt rund um die visuelle Suche, welches die Bedeutung der Intuition in der Kundenreise belegte.

Tina

Tina Nord ist Marketing-Expertin, Autorin und Sprecherin. Die Kommunikationswirtin beschäftigt sich seit mehr als zehn Jahren mit Content Marketing. Seit 2016 erforscht Tina den Einfluss maschinellen Lernens auf Content und engagiert sich für die Repräsentation und Beteiligung von Frauen an der Entwicklung von KI.

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